Mündliche Erzähl- und Überlieferungsformen
Mündliche Erzähl- und Überlieferungsformen
In den frühen Hochkulturen verkörperte der Sänger jene Instanz, welche die heiligen Mythen und Weisheiten außerhalb des sakralen Bereichs präsent hielt und verbreitete. Seine wesentlichen Funktionen waren zunächst deren Speicherung und Übertragung, womit er erheblich zur Stabilisierung der gesellschaftlichen Ordnung beitrug.
Werner Faulstich, Mediengeschichte von den Anfängen bis 1700, 2006
Lange vor dem Gebrauch der Schrift wurden religiöse, historische und alltagspraktische Gedanken von Generation zu Generation durch Weitererzählen übermittelt. Mythen, Märchen, Legenden, Rätsel, Sprichwörter, Gebete und Lieder sind typische und uns heute noch bekannte Formen dieser mündlichen Erinnerungskultur, die erst spät verschriftlicht wurden. Als besonders einprägsam für Gedächtnis und Fantasie erwies sich das rhythmische Singen der Verse. Die ältesten europäischen Epen Ilias und Odyssee, der Legende nach im 8. Jahrhundert vor Christus von dem griechischen Dichter Homer verfasst, wurden an Fürstenhöfen oder bei großen Volksfesten von sogenannten Aöden vorgetragen. In ihrer Nachfolge gruppierten sich die antiken Wandersänger später zu Rhapsoden, die Epik rezitierten, und Kitharöden, die Gedichte vortrugen und sich dabei mit einem Saiteninstrument – der sogenannten Kithara – selbst begleiteten. Im Laufe der Zeit entstanden durch solche Überlieferungsformen auch in anderen Kulturkreisen des Kontinents wichtige mythologische Werke wie etwa die nordgermanische Lieder-Sammlung der Edda (13. Jahrhundert).
Im Hochmittelalter verhalf die höfische Liebeslyrik von Troubadouren und Minnesängern dem Dichtergesang zu neuer Blüte. Zudem entwickelte sich die bis ins 19. Jahrhundert lebendige Tradition des Bänkelsanges, durch den umherziehende Vaganten und später Kolporteure, die Nachrichten, Gerüchte und unterhaltsame Geschichten verbreiteten. Besonders in weniger alphabetisierten Kulturen hat sich bis heute eine Sängertradition erhalten, bei der aus dem Gedächtnis jahrhundertealte Texte wiedergegeben werden können. Zeugnis davon legen hierzulande alte Märchen und Volkslieder ab, die vor ihrer Verschriftlichung regional oft in unterschiedlichen Variationen vorlagen und vor allem in der Zeit der deutschen Romantik (um 1800) als kulturgeschichtlicher Schatz neu entdeckt wurden.